Der “Odol-König” Karl August Lingner
Mundwasser-Flakon „Odol“® als Factise; Dresdner Chemisches Laboratorium Lingner®, Dresden/ Deutschland, ca. 1900-1912
Ankauf 2015
„Und während sie sprach, hauchte sie Frühlingsrosen aus ihrem Munde: Chloris war ich, die ich Flora genannt werde.“ So ließ der antike Versdichter Ovid (*43 v. Chr.-†17 n. Chr.) in seinen Metamorphosen die römische Vegetationsgöttin der Blüten zu Wort kommen. Später avancierte die Göttin zur Herrscherin des Pflanzenreiches, die ihr Pendant in Fauna, der Schwester oder Tochter des Faunus und somit als Göttin der Tierwelt fand. Die schier unüberschaubare und wuchernde Anzahl an “Untertanen” ließ Flora bald zu Synonyma in anderen Bereichen, wie beispielsweise der Humanmedizin werden. So etwa bei der Mundflora, welche die Gesamtheit aller in der Mundhöhle angesiedelten Mikroorganismen bezeichnet.
Eine gesunde Mundflora lag auch dem gebürtigen Magdeburger Karl August Lingner (*1861-†1916) am Herzen. Der in Dresden ansässige Unternehmer verstand es dem Bedürfnis der breiten Bevölkerungsschichten nach Schutz vor den unsichtbaren Bakterien Rechnung zu tragen. Am 3. Oktober 1892 gründete er das Dresdener Chemisches Laboratorium Lingner®, dass die Wiege des weltbekannten Mundwassers “Odol”® werden sollte. Lingner brachte das “Zahn- und Mundreinigungsmittel”, welches sein Freund und Chemiker Richard Seifert (*1861-†1919) entwickelt hatte, im Zuge der Firmengründung auf den Markt. Getauft wurde das antiseptisch wirkende und mit ätherischen Ölen angereicherte Produkt durch die Wahl eines Schachtelwortes, zusammengesetzt aus den jeweils ersten beiden Buchstaben des griechischen Wort odous für Zahn und dem lateinischen Wort oleum für Öl. Den wirtschaftlichen Erfolg, den Lingner mit seinem Mundwasser verzeichnen konnte, verdankte er einer bis dahin unbekannten, aber effektvollen Marktstrategie. Zum einen verbürgte sich Lingner mit der souveränen Aussage, dass sein Produkt als “Absolut bestes Mundwasser der Welt” anzusehen sei, was er im Jahr 1900 mit einer Odol®-Werbeanzeige bekräftigte, die für 1 Million Reichsmark in allen wichtigen Publikationen der Welt an einem Tag erschien. Zum anderen verpflichtete er zeitgenössische Künstlerpersönlichkeiten wie den Malerfürsten Franz von Stuck (*1863-†1928) oder den Maler und Bildungsbürger Arnold Böcklin (*1827-†1901) das Werbedesign auszuarbeiten. Das “odolsche” Charakteristikum schlechthin blieb das bis heute unverkennbare Design des Mundwasser-Flakons, aus weißem Opalglas mit gebogenem Hals. Die Symbiose aus unverwechselbarem Design und breit gefächerter Werbekampagnen zeigt auch die hier präsentierte Leerfactise eines Odol®-Mundwasser-Flakons. Das übliche Papieretikett wurde durch einen aufwendigen Aufbrand keramischer Druckfarben ersetzt, was wiederum eine “…unbegrenzte Verwendbarkeit zu Dekorationszwecken…” in Schaufenstern gestattete; bemerkt die rückseitige Beschriftung des Etiketts.
“Glück im Spiel, Pech in der Liebe”… diese Kehrseite seines beruflichen Erfolges, musste Lingner in seinem Privatleben hinnehmen. Auch der Adelstitel, um den er beim Deutschen Kaiser Wilhelm II. (*1859-†1941) ersuchte, blieb ihm verwehrt. Als Philanthrop und Initiator des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, ereilte ihn als leidenschaftlicher Zigarrenraucher wohl der schlimmste Schlag. Er erkrankte unheilbar an Zungenkrebs, welcher den behandelnden Berliner Ärzten schließlich keine Wahl ließ. Der “Odol-König”, wie ihn liebevoll seine Dresdener nennen, stirbt am 5. Juni 1916 an den Folgen eines operativen Eingriffes, bei dem die Zunge entfernt wurde.
Präsentation: Glas-Café, Kleintettau; 06.06. bis 30.06.2016
Künftiger Standort: Sammlungsdepot
Wissenswertes: Mit den Zerstörungen des 2. Weltkrieges wurden auch die Lingner-Werke® in Dresden in Schutt und Asche gelegt. Die Nachfolger Lingners verlegten die Produktion des begehrten Mundwassers ab 1949 an den Standort Düsseldorf. Auch die DDR produzierte in den neu gegründeten VEB Elbe-Chemie® in Dresden wieder “Odol”® in gewohntem Design. Dessen Frage klärte kurze Zeit später ein Gerichtsprozess, auf welchem hin die DDR gezwungen war ein neues, aber ebenfalls unverkennbares Flakon-Design zu entwickeln.